Amerika 15 - Der Speer der Vergeltung, Amerika
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J. G. Kastner
Der Speer der Vergeltung
Amerika
Band Nr. 15
Der Speer der Vergeltung
Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose
Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer
Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an
Hunger und Epidemien.
In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und
Sehnsucht – ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu
Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für
den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu
Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus
Deutschland fliehen muss.
Doch sein Leben in Amerika wird härter und
gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen
vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob
Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat…
***
Oregon, in den Cascade Mountains, im Februar 1864
Die schlanke blonde Frau schloß mit ihrem Leben ab, als die
lange Klinge des Bowiemessers dicht vor ihren Augen
aufblitzte.
Ihr schönes Gesicht war vor Angst verzerrt – die Angst vor
dem Tod und noch mehr darum, was mit ihrem kleinen Sohn
geschehen würde.
In ihren ausdrucksstarken grünblauen Augen stand die
unendliche Trauer geschrieben, nicht mehr erleben zu dürfen,
wie der noch nicht mal ein Jahr alte Jamie heranwuchs.
Falls
er heranwachsen durfte!
Vielleicht ließ der Mann, der mit festem, schmerzhaften Griff
Irenes Haar gepackt hielt, um ihr den Skalp zu nehmen und sie
dann zu töten, seinen wahnsinnigen Haß auch an dem kleinen
Kind aus, das ohne seine Mutter völlig schutzlos sein würde.
Dieser Gedanke war für die junge deutsche Auswanderin
Irene Sommer der schrecklichste von allen.
Frazer Bradden war ohne Zweifel wahnsinnig.
Die Trauer um den Verlust seiner Frau und seiner Kinder
hatte ihn um den Verstand gebracht.
*
Frazer Braddens Familie war über Weihnachten an einem
Fieber gestorben wie die meisten Siedler des Städtchens
Greenbush am Osthang der Cascade Mountains.
Dieses mächtige Gebirge zog sich in Nord-Süd-Richtung
durch den ganzen Staat Oregon, als hätte der Schöpfer das
Land dadurch vom Meer trennen wollen. Eine natürliche
Grenze für die Menschen, die das Land besiedelten und immer
weiter nach Westen vordrangen.
Aber längst hatten die Menschen die Cascade Range
überwunden, und längst gab es Siedlungen und Städte an der
Westküste Oregons, die gleichzeitig die Westküste der
Vereinigten Staaten von Amerika war.
Eine der Küstenstädte war das Ziel gewesen, das Irene
zusammen mit Jacob Adler, ihrem Freund und Beschützer,
ansteuerte, als sie bei der ersten Schneeschmelze mit ihrem
Planwagen in die zerklüftete Welt der Berge eintauchten.
Der Frühling erwachte im Gelobten Land, wie Oregon von
den Auswanderern verheißungsvoll und ehrfürchtig genannt
wurde. Und mit ihm erstarkte in Irene und Jacob der Wunsch,
weiterzureisen.
Irene wollte nach Kalifornien zu Carl Dilger, Jamies Vater.
Und Jacob wollte danach weiter nach Texas, wo er seinen
Vater und seine Geschwister zu finden hoffte.
Deshalb hatten sie ihre Freunde in der jungen Siedlung
Abners Hope verlassen, wenn auch schweren Herzens.
Aber alles war ganz anders gekommen. Plötzlich schien
Oregon die Endstation ihrer langen Reise zu werden.
Gestern waren sie den letzten Ãœberlebenden von Greenbush
begegnet – dem Treck der Verdammten.
Jacob und Irene hatte ihnen beim Kampf gegen angreifende
Krieger vom Stamm der Nez Perce beigestanden, ohne zu
ahnen, daß die Indianer einen guten Grund für ihren Haß auf
die Weißen hatten. Denn während die Krieger auf der Jagd
waren, hatten die Weißen das Indianerlager überfallen und alle
getötet:
Alte, Frauen und Kinder. Ihre Skalps lagen in den
Planwagen, und die Skalps der gestern getöteten Krieger
hingen zum Trocknen am Kasten von Fred Myers' Conestoga.
Der Grund für den Überfall auf das Nez-Perce-Dorf war
wahnwitzig. Die Leute aus Greenbush schoben den Indianern
die Schuld an dem großen Sterben zu, das über die Stadt der
Weißen gekommen war. Nur weil auch die Nez Perce vom
Fieber heimgesucht wurden und Hilfe von dem Missionar und
Arzt Simon Mercer erhielten. Der Bote der Nez Perce war kurz
vor dem Boten aus Greenbush in der Missionsstation Molalla
Spring eingetroffen. Also ritt Mercer erst zu den Nez Perce und
wollte von da aus weiter nach Greenbush. Doch ein für diesen
Landstrich ungewohnt heftiger Schneefall hatte das verhindert.
Mercer kam nicht nach Greenbush durch, und die meisten
Siedler starben.
Als die beiden deutschen Auswanderer von den Leuten aus
Greenbush die Wahrheit erfuhren, waren sie natürlich
schockiert gewesen. Jacob machte den zu Mördern gewordenen
Siedlern Vorwürfe. Es kam zu einem Kampf zwischen dem
jungen Zimmermann und dem Treck-Captain John Bradden.
Jacob besiegte Bradden, woraufhin dessen Bruder Frazer auf
den Deutschen schoß. Jacob stürzte bei dem Versuch, der
Kugel auszuweichen, in einen steilen Canyon. Dort hatten sie
ihn zurückgelassen, reglos, vielleicht leblos.
Die verbohrten Indianerhasser zwangen Irene, sie zu
begleiten. Irenes Flehen, Jacob zu helfen, war von den
Männern und Frauen ignoriert worden. Sie wollten keine Zeit
verschwenden, weil sie die Rache der Nez-Perce-Krieger
fürchteten.
Und wahrscheinlich wollten sie dem
Indianerfreund,
wie sie
Jacob verächtlich nannten, auch gar nicht helfen.
Der Haß, der in Frazer Braddens Gesicht geschrieben stand,
war Ausdruck des Wahns, der die Leute aus Greenbush
befallen hatte wie eine Nachwirkung des schlimmen Fiebers.
Der unrasierte Mann, der mit gezücktem Bowiemesser auf
Irene hockte, um ihr den Skalp zu nehmen, schien besonders
stark von dem Wahn befallen zu sein. Vielleicht war das der
Grund, daß er nach dem Kampf zwischen Jacob und John
Bradden auf den Deutschen geschossen hatte. Vielleicht konnte
er nicht verwinden, daß sein Bruder von einem
Indianerfreund
zu Boden gestreckt worden war.
Als der Treck sein Nachtlager erreichte, einen kleinen
Pinyonwald in einem langgestreckten Tal, hielt Frazer Bradden
Irene an, Äste und Zweige zu sammeln, um die Planwagen vor
den Blicken möglicher Verfolger zu verbergen.
Und dann verfolgte er sie und fiel über sie her…
*
Braddens unrasiertes Gesicht war dicht über dem von Irene.
Sein heftiger, stoßweiser Atem roch faulig und ekelerregend.
Gier war in das von Haß verzerrte Gesicht geschrieben – die
Gier nach Blut. Er wollte Irenes Tod offenbar genauso in sich
aufsaugen, wie er es jetzt mit ihrer Angst und ihrer
Verzweiflung tat.
Das schien der Grund zu sein, weshalb er den Schnitt in ihre
Kopfhaut so lange hinauszögerte. Je länger die Frau litt, desto
mehr befriedigte es den Mann.
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